Auszug aus der Festansprache von Rudolf Walzel anlässlich 50 Jahre Arbeiterwohlfahrt Friedberg 1997
(Rudolf Walzel war 1947 Gründungsmitglied des Ortsvereins.)
Der Krieg war vorbei, große Teile Deutschlands lagen in Trümmern und wir waren Besatzungsland. Die Versorgung der Bevölkerung war zusammengebrochen und die Besatzungsmacht, bei uns die Amerikaner, bestimmten, was zu geschehen hat. Durch die Vertreibung von über zehn Millionen unserer Landsleute aus dem Osten, die in den verbliebenen Grenzen untergebracht werden mussten, hatte auch Friedberg den ihr zugewiesenen Teil zu bewältigen. In fast jedem Haus wurden dafür Zimmer beschlagnahmt, oft auch mit Benutzung der eigenen Küche. Es gab fast nichts, was frei zu kaufen war. Es gab Lebensmittelkarten mit wenig Inhalt und fast alles auf Bezugscheine, die eigens beantragt werden mussten und nur unter größten Schwierigkeiten zu erhalten waren.
Was das für jene Menschen bedeutete, die oft nur das besaßen, was sie auf dem Leib hatten und tragen konnten, kann man heute kaum noch ermessen. Es blühte der Schwarzhandel und viele trennten sich von letzten Werten, die sie noch besaßen, sogar von Eheringen, um Lebensmittel einzutauschen, damit die Familie überleben konnte. In dieser Zeit war nicht Geld wichtig, wenn man etwas brauchte, sondern der Bevölkerung vorenthaltene Lebensmittel und Wertgegenstände. Aber wer besaß das schon? Doch nicht der Teil der Bevölkerung, der es am dringendsten gebraucht hätte.
Diese Zeit der Not und der Ungerechtigkeiten schrie doch geradezu nach sozialer Gerechtigkeit und Hilfe. Doch wie konnte geholfen werden? Welche Zuständigkeiten gab es? Es zeigte sich, dass die vorhandenen kirchlichen Hilfsorganisationen und das Rote Kreuz die Lücke nicht ganz schließen konnten, die durch das Verbot der Arbeiterwohlfahrt durch Hitler 1933 entstanden war. Die AWO ist, wie die Bezeichnung „Arbeiter“ schon aussagt, ein Kind der Arbeiterbewegung. Die Wiedergeburt nach dem Kriege kam aus der gleichen politischen Quelle.
Der SPD-Ortsverein Friedberg wurde in einem Rundschreiben des SPD-Bezirksverbandes Anfang September 1946 aufgefordert, einen Verein Arbeiterwohlfahrt zu gründen. Falls das noch nicht möglich sein sollte, dann einen Ausschuss zu bilden mit Personen, die korrekt und gerecht sein müssen zur Verteilung von internationalen Hilfsgütern. Die SPD-Friedberg meldete mit Schreiben vom 23. September 1946 an den Bezirk, dass noch kein Ortsverein gebildet werden konnte, jedoch der gewünschte Ausschuss mit sechs Personen. Das war der Anstoß zur Gründung des Ortsvereins der AWO in Friedberg. Bereits Ende September 1946 bildete der SPD-Ortsverein einen vierköpfigen Ausschuss, der die Gründung der AWO vorbereiten sollte. Die Mitgliederwerbung begann innerhalb der SPD und schon im Oktober 1946 traten sieben bei, im November acht und im Dezember vier. Von Januar bis April 1947 nochmals 20, so dass der Ortsverein mit bereits 39 Mitgliedern gegründet werden konnte. Es waren elf Friedberger und 28 Vertriebene, davon zehn Frauen.
Zum 1. Vorsitzenden wurde Johann Rauscher gewählt, der auch die Funktion des Geschäftsführers ausübte. Die Geschäftsstelle war bei mir im SPD-Sekretariat in der Ludwigstraße im Nebenzimmer der Gastwirtschaft Roidl, jetzt nach dem Neubau die Metzgerei Obermeier. Der kleine Nebenraum diente als Lagerraum für Sachspenden. Rauscher war Beingeschädigter und konnte nur mit Stock gehen. Er wohnte in der Frühlingsstraße und machte zwei Mal am Tag - trotz seiner Behinderung - den Weg zu Fuß zum Büro und das ehrenamtlich. Ich sage das deshalb, um den heutigen Generationen zu sagen, welcher Idealismus vieler Frauen und Männer die damalige Zeit geprägt hat. Die damaligen Beitritte zur AWO zeigten, dass Menschen bereit waren, trotz dem Wenigen, was sie besaßen, mit ihrem Beitrag jenen zu helfen, denen es noch schlechter ging. Wir machten uns das Symbol der AWO zueigen, das Herz. Ein Herz für Menschen in Not. Das Wort Solidarität war damals keine leere Sprachblase. Den Gründungsmitgliedern war bewusst, dass sie zur Lösung der damaligen Probleme nur einen kleinen Beitrag leisten konnten. Eine Erfahrung dieser Zeit war es, dass es oft schwierig war, die Menschen zu erreichen, die Hilfe am dringendsten brauchten. Es waren oft allein stehende alte Menschen, die ein Leben lang für sich und die Familie gesorgt hatten und sich nun ihrer unverschuldeten Armut schämten, um etwas zu bitten. Hier konnte nur über Dritte geholfen werden, die der AWO sagten, da ist jemand der dringend Hilfe braucht. Es war in dieser Zeit jedoch ganz wichtig, den vom Schicksal am härtesten getroffenen Menschen das Gefühl zu geben, in ihrer Not nicht allein gelassen zu sein.
Die erste Aufgabe der AWO war die Verteilung von internationalen Hilfsgütern. Es waren Lebensmittel und Kleidung. Am Anfang waren es Spenden aus Schweden. Die Verteilung erfolgte nicht nach Parteizugehörigkeit, sondern ausschließlich nach Bedürftigkeit. Die Hilfsorganisationen hatten sich vorbehalten, das vor Ort zu überwachen. Bei Missachtung hätte die Arbeiterwohlfahrt keine Spenden mehr zur Verteilung erhalten.
Bei der vorhandenen Not waren die ausländischen Spenden jedoch nicht ausreichend, deshalb musste man sich auch in Friedberg um Spenden bemühen, was in dieser Zeit nicht leicht war. Doch die Opferbereitschaft in der Bevölkerung war doch größer, als man zu hoffen gewagt hatte. Sachspenden kamen von den Geschäften. Die Sammler gingen kaum einmal mit leeren Händen aus einem Geschäft, wenn es oft auch nur Kleinigkeiten, wie ein Hemd, ein Paar Socken oder ein kleines Haushaltsgerät war. Großspender waren die beiden Firmen Segmüller und Huber & Co, Inhaber Herr Buchard. Hier gab es vor allem Sachspenden aus eigener Fertigung, Polsterstühle und Sessel, aber auch Geldspenden. Diese Sachspenden waren damals sehr begehrte Artikel. Heute kann man kaum noch ermessen, was für ein Glücksgefühl es für einen Menschen bedeutete, nach langem Schlafen auf dem Fußboden eine Matratze geschenkt zu bekommen. Heute würde man zu einer Matratze lächeln und sagen, die findet man doch in Mengen bei jedem Sperrmüll. Wie ändern sich doch die Zeiten.
Ich will diese Feierstunde nutzen auch nach 50 Jahren all derer zu gedenken, die damals gesammelt und gespendet haben und ihnen nochmals ein herzliches Danke zu sagen. Auch der ausländischen Spender sei nochmals mit einem Danke gedacht, die trotz der Verbrechen des Hitlerregimes nicht das ganze Deutsche Volk dafür verantwortlich gemacht haben.
Von den Gründungsmitgliedern leben nur noch fünf, alle sind Sudetendeutsche aus dem Braunauer Ländchen. Das ist kein Zufall, sondern deutsche Geschichte. Uns war es sechs Jahre länger vergönnt, nicht unter Hitler leben zu müssen, und genau diese Jahrgänge fehlen bei den Friedbergern. […]